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Der Sound der Freiheit - Tex Döring und der Jazz aus Bamberg

Während des Zweiten Weltkriegs gab es für die meisten Deutschen keine Möglichkeit, Jazz zu hören. Wie ich erfahren habe, hatte Ihr Vater aber eine ansehnliche Sammlung von Jazz-Platten, sodass Sie als Kind auch in den Kriegsjahren Gelegenheit hatten, Jazz zu hören. War das damals bei Ihnen zu Hause ganz entspannt möglich? 

Es gab damals schon noch Möglichkeiten, an Jazz-Platten zu kommen, zum Beispiel über gute Kontakte oder in Plattenläden in Berlin und Nürnberg, die importierte Schallplatten aus England verkauften. Mein Vater hat in seiner Zeit, als er als Soldat unterwegs war, gelegentlich nach solchen Platten geschaut und auch zuhause vernünftige Platten mit Tanzmusik aufgelegt, die in Deutschland sonst weniger zu hören waren. Daneben befanden sich in unserem Plattenschrank auch immer Combos, die zumindest einen Swing- oder Big-Band-Ansatz hatten. Allein habe ich mich aus Angst, eine zu zerbrechen, da nicht rangetraut. Die eigentlich für mich interessanten Situationen waren, als meine Eltern nach dem Krieg Freunde zu Schallplattenabenden eingeladen hatten und ich die Platten aus dem Schrank holen durfte. Richtig aufgeblüht ist die ganze Entwicklung dann aber erst, als die ersten Platten mit 45 Umdrehungen pro Minute erhältlich waren. Da passte gleich viel mehr drauf als auf die mit 78 Umdrehungen.

Gab es da auch gleich mehrere Sender, die diese Musik spielten?

Nur über Mittelwelle. UKW kam erst später. Damit gab es für uns Radio München und Radio Stuttgart und noch einen Schweizer Sender, Radio Beromünster.

Und AFN, American Forces Network? 

AFN! Das war natürlich der Sender überhaupt, der uns mit Jazz und amerikanischer Musik versorgt hat, bei uns aber auch nur auf Mittelwelle.

Erinnern Sie noch an die ersten persönlichen Kontakte zu den Amerikanern, den GIs in Bamberg?

Die ersten Amerikaner, die ich gesehen habe, sind bei uns damals in der Dorotheenstraße mit einem Jeep aufgekreuzt. Der Fahrer war ein Typ, wie man sich den GI-Joe vorstellt: Stahlhelm im Nacken, Zigarette im Mundwinkel, eine Hand am Lenkrad, die andere draußen hängend. Hinten auf dem Jeep stand ein baumlanger Schwarzer, Typ Basketballer, der einen Koffer dabei hatte und dauernd Damenunterwäsche in der Straße verteilt hat und vor lauter Freude „Hooray, Hooray“ dabei geschrien hat, nach dem Motto „Wir haben den Krieg gewonnen.“ Daraufhin hat meine Mutter zu mir gesagt: „Geh weg vom Fenster. Wer weiß, was die noch vor haben.“

Das waren ja auch die Feinde.

Ja, freilich. Der Witz war, wie sich später herausstellte, dass die Amerikaner die Wäsche von der Leine einer Nachbarin heruntergezogen hatten, die ihre Riesenschlüpfer unter schamhaftem Erröten später wieder einsammeln musste. Ich habe mir nur gedacht: Das sind ja lustige Soldaten. Das Interessante im Zusammenhang mit der Musik waren die Standkonzerte der Amerikaner auf dem Grünen Markt. Im Gegensatz zu unserer deutschen Musik haben die swingende amerikanische Sachen gespielt. Da habe ich zum ersten Mal Glenn Miller, Benny Goodman und Artie Shaw live gehört. Das war eine Show, ein Unterschied wie Tag und Nacht! Die Akkorde waren viel raffinierter, unsere dagegen brav. Selbst der Marsch-Rhythmus war einfach amerikanisch, er beruhte im Grunde auf einem New-Orleans-Beat, der schon von sich aus federt. Das hat mich fasziniert. 

1958 hatten Sie den ersten Auftritt als Musiker, und zwar erstmals in der US-Kaserne. Wie haben Sie sich den Jazz beigebracht?

1949 habe ich mit dem Klavierspielen begonnen. Mein Klavierlehrer hatte – eine große Seltenheit – ausgeschriebene Notentexte aktueller Schlager, die so genannten „Hit-Kit-Hefte“, und Standards der „Great American Songbook-Komponisten“ zur Hand, weil er selber auch im Ami-Club gespielt hat. Mit 15, 16 habe ich versucht, das zu übernehmen und da kamen mir die ersten harmonischen Tricks zu Bewusstsein, wie man am Klavier hinlangen muss, damit es besser klingt als das, was wir in Deutschland gewohnt waren zu spielen, eben ein bisschen schräg und nicht so brav.

1958 kam aus Amerika nicht mehr nur Swing, sondern so unterschiedliche Stile wie Bebop, Hillbilly, also Country-Musik, Rock and Roll und mehr. Was bedeutete das musikalisch für Sie und Ihre Kollegen, die in den US-Clubs spielten?

Wir haben uns eigentlich keine Gedanken gemacht, ob wir in einem Club nur Jazz spielen konnten oder nur 20 Prozent oder gar keinen Jazz. Dass wir spielen konnten, bedeutete zunächst einmal Geld. Wenn bei den Stücken aus einem breiten Spektrum ein gewisser Prozentsatz Jazz dabei war, konnten wir schon froh sein. Interessant wurde es für uns in einem Mannschaftsclub mit vielen Schwarzen. Da haben der Jazz und der Soul und später auch der Funk von vornherein bessere Karten gehabt. Da kamen auch immer wieder Musiker auf die Bühne, die gefragt haben, ob sie mitspielen können, und manche waren auch saugut, zum Teil Profis!

Es gab auch damals die Unterscheidung zwischen feiner Kunst und grober Unterhaltung –  spielte die in Ihrem Wertesystem eine Rolle?

Nein, eigentlich nicht. Wenn wir Stücke spielen mussten, die uns eigentlich gar nicht gefallen haben, dann wegen eines Sonderwunsches aus dem Publikum. Wenn derjenige dreimal kam, hat meistens unser Gitarrist zu ihm auf amerikanisch gesagt: „Beim nächsten Mal gibst du aber eine Runde aus.“ Dann kam der mit fünf Bieren zur Bühne rauf und wir mussten das gleiche Stück zum vierten Mal spielen. Es gab auch Spezialisten, die Krach haben wollten, dann hieß es „Drum Solo“. Und der Schlagzeuger hat reingedroschen, was das Zeug gehalten hat. Das hat den Amis meistens Spaß gemacht. Wenn uns im Offiziersclub dagegen Beifall gezollt wurde für Qualität, also zum Beispiel ruhige Jazz-Stücke im George-Shearing-Sound oder für Bar-Musik und Balladen, dann wussten wir schon, dass wir in einer etwas gehobeneren Schiene drin sind.

Wie haben Sie dann das erste Jazzkonzert in Bamberg 1960 empfunden?

Das war schon ein Höhepunkt in einer musikalischen Entwicklung. Mit den Plakatierungen kamen wir aus dem anonymen Spielen im Ami-Club raus und wurden mit einem Schlag, ich sage es mal ein bisschen arrogant, schon etwas berühmt. Wir waren da ganz schön aufgedreht, denn da saßen Leute in solchen Mengen drin, dass der Laden am Schluss zugemacht werden musste. Zum zweiten saßen die Freundinnen in den ersten Reihen, vor denen man sich auch nicht blamieren wollte. Wir hatten keine Noten und mussten alles auswendig spielen. Da waren wir sicher aufgeregt. Aber es ist alles gut gelaufen, und das Konzert hat in Bamberg eingeschlagen wie eine Bombe.

Sie haben später Jazz-Größen wie Albert Mangelsdorff und Ack van Rooyen begleitet. Waren die bekanntesten Musiker für Sie auch die wichtigsten im Zusammenspiel?

Albert Mangelsdorff war der erste von den für mich Großen, mit dem ich zusammenspielte, zusammen spielen durfte – ich habe es als Dürfen empfunden. Er selbst hat nie einen Fetzen Arroganz mir und den anderen gegenüber raushängen lassen, obwohl er, weiß Gott, mehr Erfahrung hatte. Dann würde ich als nächstes Don Menza nennen. Es gibt kaum einen Tenorsaxophonisten, der heute an ihn herankommt, auch wenn man sich stilistisch über die Musik streiten kann. Er weiß in jedem Stück punktgenau, an welcher Stelle er sich gerade aufhält. Ich habe vor solchen Leuten einen Heidenrespekt, und wenn da das Zusammenspiel klappt, hebt uns das als Musiker natürlich auch gewaltig hoch. Vor allem merken die Gäste, soweit sind die nicht voneinander weg, technisch vielleicht, aber gefühlsmäßig und von der Raffinesse auf jeden Fall auf einer ähnlichen Schiene.

Wenn es so gut lief, haben Sie sich dann auch manchmal gedacht „Mensch, wäre ich doch lieber Profimusiker geworden statt Lehrer“?

Ich habe ja lange überlegt, ob ich Musik auf Lehramt studieren soll oder Naturwissenschaften. Aber ich kannte praktisch keinen Musiklehrer, nur einen, der glücklich war in seinem Beruf. Die Kinder waren wenig zu begeistern für die Musik, die ihnen angeboten wurde. Dass das Ministerium das durch den Lehrplan verbockt hatte, ist eine andere Sache. Aber die armen Hunde von Lehrer sind drüber verzweifelt. Das wollte ich mir nicht antun und habe lieber Chemie studiert. Das war die bessere Entscheidung, weil Musik dadurch das Hobby, ein Freiraum geblieben ist.

Was sind Ihre musikalischen Allzeit-Favoriten?

In der Klassik Chopin und das „Concierto de Aranjuez“ von Rodrigo, Bach sowieso. Im Jazz Charlie Parker und Art Tatum. Im Pop die Bee Gees und die Carpenters. Zu meinen lateinamerikanischen Lieblingen gehört am Klavier auf jeden Fall Chucho Valdés, dann Michel Camilo aus der dominikanischen Republik. Bei den Indern Ravi Shankar. Ein paar schöne Sache von George Shearing möchte ich auch nicht vermissen. Und nicht zu vergessen: Stan Getz.

Sie spielen auch heute noch gerne Stücke aus der Frühzeit des Modern Jazz. Gibt es für Sie einen Stil, der „zeitlosen“ Jazz ausmacht?

Ich würde sagen, ich gehöre zu einer Generation, die swingende Musik mag. Ich meine, Musik sollte auch fetzen. Musik sollte in Balladen Ruhe ausstrahlen und in jedem Stück einigermaßen ästhetisch klingen. Ich habe etwas dagegen, chaotischen Jazz zu machen. Und ich möchte mich nicht mit Krach auseinandersetzen, das ist für mich kein Erlebnis. Ich akzeptiere es, wenn das jemand spielt, aber möchte nicht dazu gezwungen werden, dann stopfe ich mir die Ohren zu. Aus dem Grund sage ich: Zeitlos swingender Jazz, das heißt, die Tradition irgendwann einmal gelernt zu haben und bis in die neueste Zeit zu schieben. Nicht zu vergessen, dass es einen Miles Davis gegeben hat, der durch sein modales Spiel den Jazz harmonisch völlig verändert hat. Die meisten Leute, die meine Musik hören, stimmen damit offensichtlich überein. Es gibt welche, die sagen: „Der spielt langweiligen Scheiß.“ Sollen sie sagen, gut. Das muss man dem Musiker überlassen, was er spielt. Und man muss es umgekehrt dem Zuhörer überlassen, wenn er lieber geht und noch ein Bier im „Schlenkerla“ trinkt.